Praxis-Newsletter 04/22

„Lass das Verhalten anderer nicht deinen inneren Frieden rauben“ (Tenzin Gyatso 14. Dalai Lama)

Lange gab es keinen Praxis-Newsletter mehr… Warum fragen Sie? Ganz einfach…wir hatten keine Zeit!

Zeit ist aktuell neben Gas und Computerchips sowieso das Gut, an dem der größte Mangel herrscht.

In unseren anonymen „Beschwerdebögen“ häufen sich aktuell die Beschwerden, dass unsere Wartezeiten, trotz Terminvereinbarung, durch die Decke gehen. Auch wenn, wie in einem Beschwerdebogen vor Kurzem vermerkt, man bei uns keine „10 Stunden“ wartet, so sind die Wartezeiten, auch für Terminpatienten, auf ein inakzeptables Niveau gestiegen.

Sie sagen berechtigterweise „Dann ändert gefälligst etwas daran!“.

In diesem Newsletter möchte ich Ihnen daher unsere Situation aufzeigen und Sie in die Abgründe unseres Gesundheitssystems mitnehmen.

Gleich vorweg…Es wird nicht schön, aber die „Wahrheit“ (zumindest unsere subjektive Wahrheit) ist meist nicht schön.

Starten wir also mit Ihrer „Odyssee“ durch den Praxisalltag. Sie sind krank, mit was auch immer, zumindest nicht „hoch akut“. Sie vereinbaren online einen Termin für den Folgetag, nachdem Sie nach drei erfolglosen Anrufversuchen jeweils „nur“ mit der Mailbox verbunden wurden und Ihnen ein Rückruf angeboten wurde.

Am Folgetag erscheinen sie überpünktlich zu Ihrem Termin, müssen aber stehen, da das Wartezimmer überfüllt ist. Erste unangenehme Gefühle steigen in Ihnen auf.

Nach einer geschlagenen Stunde Wartezeit werden Sie ungehalten. „Ist die Patientin, die gerade aufgerufen wurde, nicht nach mir gekommen? Die haben mich doch vergessen!“, denken Sie!

Ihre erste Reaktion ist, schon etwas ungehalten, an die Rezeption zur dort sitzenden medizinischen Fachangestellten zu gehen und sie höflich, aber bestimmt, zu fragen „ob es denn noch lange dauert?“.
Die medizinische Fachangestellte, sichtlich genervt, antwortet Ihnen, ebenfalls höflich, aber noch etwas bestimmter, „dass sie sich alle Mühe gibt, aber sie würden ja sehen, wie viel los ist!“.

Zurück im Wartezimmer, aber mit der Antwort nicht zufrieden, nutzen sie die verbliebene Zeit, um einen Beschwerdebogen auszufüllen und sich über die schrecklich langen Wartezeiten zu beschweren. Und damit sind wir am Ende dieser Geschichte und kehren quasi zum Anfang dieses Textes zurück.

Es kann doch nicht so schwer sein, ein funktionierendes Terminsystem aufzubauen, möchte man denken. Und die Ausrede mit „Sie wissen ja, wir haben Corona“, kann so langsam auch nicht mehr für alles herhalten.

Sie haben absolut Recht! Ein funktionierendes Terminsystem aufzubauen, ist überhaupt nicht schwierig…. wenn man ein Friseur oder Rechtsanwalt ist. Wenn da einer ohne Termin reinkommt, dann sagt man ihm höflich, dass er sich bitte einen Termin machen muss und wenn er dann erneut etwas bestimmter fragt, dann sagt man es halt nochmal. Der Kunde geht. Vielleicht etwas angesäuert, aber er geht.

Gehen wir in die Arztpraxis. Der „Kunde“ (Patient) kommt, ohne Termin, aber mit Beschwerden. Wir ergründen um welche Beschwerden es sich handelt (nehmen wir hier mal an, dass der Patient bisher so nicht gekannte, starke Schmerzen im Bauchraum hat) und teilen dem Patienten mit, dass er sich für den Folgetag einen Termin vereinbaren soll. Hiermit ist der Patient allerdings nicht zufrieden (ähnlich, wie beim Friseur mit dem verweigerten Haarschnitt). Bei uns bleibt der Patient jedoch und wird Minute um Minute lauter und fordert sein Recht ein, eine medizinische Behandlung durch einen Arzt zu erhalten.

Dumm ist für uns, dass man an zu langen Haaren selten stirbt. An einer unerkannten Infektion oder Verletzung im Bauchraum aber durchaus.

Was passiert also… der Patient geht nicht und sieht, wie gewünscht, einen Arzt. Dieser stellt fest, dass es sich um einen simplen Magen-Darm-Infekt handelt und verschreibt dem Patienten Schonkost und Schmerzmittel und stellt eine Krankmeldung aus. 6 Minuten später verlässt der Patient das Arztzimmer.

Und was machen Sie, mit dem Termin? Sie warten jetzt schon 6 Minuten länger und der Patient ohne Termin ist an Ihnen vorbeigelaufen.

 Warum, fragen Sie?

Weil wir von Ihnen schon wissen, dass Sie z.B. seit Monaten Müdigkeit und Abgeschlagenheit plagt. Dieses Problem wollen wir ergründen. Aber der Patient mit den Schmerzen ist, zumindest nach erstem Anschein, „akuter“ (dringlicher).

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das nicht so war… Aber wenn wir eine Glaskugel hätten…ach egal.

„Jaja, aber das sind nur 6 Minuten! Keine Stunde!“, sagen Sie.

Richtig! Das war ja aber auch nur der erste Patient dieser Art…

 

Und schon heißen wir Sie in unserem aktuellen Alltag willkommen.

  • Das Telefon klingelt durch. 500 Anrufe am Tag sind keine Seltenheit. Und obwohl wir ständig telefonieren, erreichen uns die Patienten nicht.
  • Die Patienten, die vor uns Warten sind genervt, weil wir ständig telefonieren…
  • Die Patienten, die uns nicht erreichen, sprechen selten auf die Mailbox. Aber wenn Sie das tun, sind Sie sauer, dass wir nicht zeitnah zurückrufen. Die Mailbox muss aber halt auch jemand abhören. Das wäre dann die Person, die telefoniert oder mit dem Patienten live vor ihr spricht.
  • Die Patienten, die uns nicht erreichen und nicht auf die Mailbox sprechen, kommen mit ihrem Anliegen (wie dringlich oder nicht dringlich auch immer) in die Praxis und reihen sich in die Schlange der Wartenden ein.

Ich könnte diese Aufzählung ewig fortsetzen. Sie sehen das Problem.

„Ist kein Problem!“, sagen Sie? „Stellen Sie einfach mehr Personal ein!“, sagen Sie?

Kommen wir zum nächsten Punkt.

„Woher sollen wir dieses zusätzliche Personal nehmen?“, frage ich im Gegenzug.

Auf eine Stellenausschreibung bewirbt sich heute niemand bis maximal eine/r Bewerber/in. Sowohl auf eine Stellenausschreibung für Ärzte als auch für medizinische Fachangestellte. Denn wir brauchen ja schlussendlich beide. Es bringt Ihnen leider nichts, wenn Sie uns erreichen, weil wir eine medizinische Fachangestellte eingestellt haben, aber Sie dennoch keinen Termin bekommen, weil wir nicht mehr Ärzte haben.

Zudem kommt das liebe Geld. Und hier tauchen wir in die tiefen Abgründe des Gesundheitssystems. Die armen Krankenkassen sind, nach 2 Jahren Testchaos im Rahmen von Corona usw., pleite, auf gut deutsch gesagt.

Dem Beitragszahler (wir alle) kann man die Kosten nicht aufdrücken, weil wir sonst einen Bürgerkrieg riskieren.

Die Pharmalobby mit ihren Phantasiepreisen für Arzneimittel ist zu mächtig und gut vernetzt.

Die Krankenhäuser haben gerade, berechtigterweise, eine gute PR, denen können wir den Hahn auch nicht zudrehen. Außerdem kämpfen diese ja auch gerade mit den Energiepreisen (bei uns wird übrigens auch geheizt und Licht angemacht, aber das zahlt sich selbst…)

Was bleibt? Die niedergelassenen Ärzte! Von denen wissen wir nämlich, dass wenn man Sie belastet, sie automatisch über ihre Belastbarkeitsgrenze hinausgehen und alles Menschenmögliche versuchen, ihren Patienten zu helfen. Helferkomplex sei Dank.

Dumm ist nur, die haben auch zwei Jahre Corona hinter sich. 8 von 10 Patienten mit COVID wurden beim Niedergelassenen behandelt, die meisten Impfungen haben die Niedergelassenen durchgeführt und zeitgleich musste unser ehemaliger Gesundheitsminister Spahn seine unausgegorene Digitalisierung im Gesundheitswesen auf unserem Rücken und unseren Kosten (neue Rechner, Firewalls, IT-Support) durchziehen.

Schlussendlich sind die Niedergelassenen schon seit zwei Jahren über jedes Maß belastet.

Was machen also die im Durchschnitt 54,2 Jahre alten Hausärzte (Durchschnitt!!!). Wer über 60 Jahre alt ist, sieht sein Soll berechtigterweise erfüllt und sucht einen Nachfolger, so er denn einen findet.

Findet er/sie keine/n Nachfolger/in, wird die Praxis geschlossen.

Bei durchschnittlich 700 Patienten pro Quartal und Praxis, suchen jetzt also 700 Menschen einen neuen Hausarzt.

Und diese 700 Menschen treffen auf unsere Praxis, die telefonisch nicht erreichbar und terminlich ausgebucht ist, weil sie zu wenig Personal und Zeit hat…

Hier kommt das magische Wort „Patientenaufnahmestopp“. Wenn Sie eine dieser 700 armen Seelen sind und Sie tatsächlich telefonisch bei uns durchkommen, werden wir Sie abweisen müssen. Ihr Problem oder Ihre Sorge ist davon aber nicht weg…

Was machen Sie…Sie kommen in die Praxis. Hier muss ich nur laut genug und flehentlich mein Anliegen vortragen und ich werde wohl Gehör finden. Stopp!!!

Erstmal in die Warteschlange! Wenn Sie aber dringend genug sind, laufen Sie an den Wartenden mit Termin vorbei… hatten wir das nicht schon mal?

Wir sind gerne bereit, unser „Menschenmögliches“ zu tun…aber eben auch nicht mehr. Wir laufen körperlich wie seelisch seit zwei Jahren auf Verschleiß. Und wenn Sie Ihr Auto jahrelang auf Verschleiß laufen lassen, wird es irgendwann einfach den Geist aufgeben.

Das gleiche passiert mit Menschen.

Wir sind weiterhin mit Eifer bemüht, Lösungen zu finden, um Ihnen die, unter den gegebenen Umständen, bestmögliche medizinische Versorgung zukommen zu lassen.

Wir brauchen aber Ihre Mithilfe!

Folgendes können Sie beitragen:

  1. Versuchen Sie Verständnis für unsere Situation aufzubringen und bleiben Sie ruhig, höflich und sachlich. Wir bemühen uns, das Gleiche zu tun.

 

  1. Nutzen Sie, wo es geht, unsere digitalen Helfer (Onlinetermine, E-Mail schreiben, Rezept- und Überweisungsbestellung auf der Homepage, auf die Sprachbox des Telefons sprechen)

 

  1. Hinterfragen Sie bitte kritisch, ob Ihre Beschwerden einen dringlichen Besuch in der Praxis rechtfertigen oder ob ein Termin in zwei Wochen auch noch ausreicht.

 

  1. Planen Sie Zeit ein für Ihren Arztbesuch (2 Stunden sollten reichen). Je nach Anliegen werden wir auch noch Zusatzuntersuchungen (z.B. EKG oder Ultraschall) direkt durchführen.

 

  1. Gehen Sie davon aus, dass wir Ihnen grundsätzlich wohlwollend begegnen! Wir mögen Menschen! Sonst hätten wir unseren Beruf nicht gelernt.

In diesem Sinne hoffe ich, dass wir auf einen möglichst krankheitsfreien Winter zusteuern und verbleibe mit besten Grüßen für Sie und Ihre Familie

Florian Tochtermann für das gesamte Praxisteam Tochtermann